Dieser Artikel stammt aus der antimilitärischen Zeitschrift tilt, Ausgabe 2/96

"Schon die Aussetzung ist ein Erfolg"

Kommentar: Die Wehrpflicht soll im TKDV-Prozeß auf den Verfassungsprüfstand

Der Prozeß gegen den Totalverweigerer Volker Wiedersberg wegen Dienstflucht vor dem Amtsgericht Potsdam ist erst einmal auf Eis gelegt (siehe Bericht: "Gericht läßt prüfen ..."). Der Angeklagte und sein Verteidiger Wolfgang Kaleck beantragten die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, daß die in § 1 und § 3 WehrpflichtG gesetzlich verankerte allgemeine Wehrpflicht verfassungsmäßig ist. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck kommentiert den Fall für tilt.


Das Bundesverfassungsgericht hat auch vor dem Mauerfall 1989 nie explizit über die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht entschieden, allerdings in einer Reihe von Entscheidungen diese verfassungsrechtlich abgesegnet. Nach 1989 kam es zu keiner ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgerichtes über die Wehrpflicht. Da in der politischen Diskussion die Wehrpflicht allenthalben in Frage gestellt wird und auch in der juristischen Diskussion einzelne Stimmen laut geworden sind, die zumindest eine verfassungsrechtliche Nachprüfung der Wehrpflicht angeregt haben, sollte auch im Rahmen eines Totalverweigererprozesses die Frage einmal auf den Tisch gebracht werden, ob denn überhaupt noch eine Grundlage für die Bestrafung von Totalverweigerern in dieser Hinsicht besteht.

Es wurde ein extra für dieses Verfahren eingeholtes Rechtsgutachten von Manfred Baldus aus Hamburg vom April 1995 eingereicht. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, daß die Wehrpflicht als einfachgesetzliche Pflicht das Grundrecht aller wehrpflichtigen Soldaten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit einschränkt und damit den Schranken des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterliegt. Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht auch erforderlich ist, um die verfassungsrechtlich legitimierten Zwecke der Verteidigung sowie die möglicherweise der Verfassung zu entnehmenden Zwecke der Sicherung und Optimierung demokratischer Strukturen der Bundesrepublik Deutschland zu realisieren, muß sodann verneint werden.

Baldus ist der Auffassung, daß die Änderung der geopolitischen Situation der Bundesrepublik auch verfassungsrechtlichen Niederschlag finden. War vor 1989 der erhebliche Eingriff in die Grundrechte der Wehrpflichtigen vor allem damit gerechtfertigt worden, daß die Bundesrepublik sich in existentieller Gefahr eines Angriffes aus dem Osten befände, entfällt diese Rechtfertigung nach 1989/90. Baldus hat dies in einer Reihe von Zeitschriftenaufsätzen vertreten, wobei sein Ansatz insbesondere auch aus verfassungsdogmatischen Gründen Aufsehen erregt hat. Er gelangt dann in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, daß die Wehrpflichtigenarmee zum Zwecke der Landesverteidigung 1996 nicht mehr erforderlich ist. Das heißt, es existiert ein milderes, das Grundrecht schonenderes Mittel mit einer Freiwilligenarmee. Belegt wird dieser Befund mit einem Blick auf unsere westeuropäischen Nachbarn.

Angesichts der Länge des Antrags der Verteidigung sowie des eingereichten Gutachtens wollte Amtsrichter Peters nicht sofort entscheiden, sondern hat die Hauptverhandlung in Potsdam zunächst auf unabsehbare Zeit ausgesetzt. Schon dies muß als kleiner Erfolg angesehen werden, denn damit hat er signalisiert, daß die Wehrpflicht kein unerschütterliches verfassungsrechtliches Dogma mehr ist, sondern daß es angesichts der vorgetragenen Argumente einer eingehenden Nachprüfung bedarf, um auch in der Öffentlichkeit die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht zu begründen. Der in Potsdam gestellte Antrag soll daher demnächst in geeigneten Verfahren wiederholt werden.


Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck

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