Kinder als Opfer: Was chinesische Nuklearwaffen ganz ohne Krieg angerichtet haben

Der Schädel von Ainura ist zur Kürbiskopfgröße aufgedunsen und verformt. Man sieht einzelne dicke Venen in der Hirnschale, die aussieht wie die von einem Alien. Der Rest des Körpers ist geschrumpft, die Hände sind verkrüppelt und abgeknickt. »Als Ainura noch klein war, hat sie oft geweint und mich angefleht, ihr zu helfen«, erzählt ihre Mutter Anja Losanowa. »‘Mein Kopf tut weh‘, hat sie gejammert. Aber jetzt, wo sie acht ist, kann sie nicht einmal mehr weinen.«

Ainura ist in der kasachischen Stadt Scharkent zu Hause. Tausend Kilometer von hier, hinter der Landesgrenze und dem Tienschan-Gebirge, betreibt China das Atomtestgelände Lop Nor. Hier detonierten bis zum 29. Juli 1996 insgesamt 45 Atom- und Wasserstoffbomben. Weit weg? Der radioaktive Niederschlag macht weder vor Gebirgen noch vor Landesgrenzen halt. Die Krüppelkinder in Scharkent sind der lebende Beweis dafür.

23 Nuklear-Bomben zündeten die Chinesen in der Atmosphäre; die letzte oberirdische Explosion fand 1980 statt. Schon 1964 hatte alle anderen Atommächte auf derartige Demonstrationen der Stärke verzichtet. Die Chinesen brachen das Atom-Tabu lange vor Indien und Pakistan. Sie setzten bei den Explosionen nach Hochrechnungen der »Ärzte gegen den Atomkrieg« (IPPNW) 48 Kilo Plutonium frei. Bereits ein tausendstel Milligramm dieses Stoffes kann bei einem Menschen Krebs auslösen.

In Scharkent ist die chinesische Grenze nur 30 Kilometer weit weg. Mißbildungen wie der Wasserkopf von Ainura sind hier keine Ausnahme. Ein Einjähriger hat verkrüppelte Zehen und Finger, einem Zehnjährigen fehlt seit der Geburt der Unterarm. Die Anämiefälle haben hier seit den 80er Jahren drastisch zugenommen. »Es gibt immer mehr Leukämiefälle, Fehl-, Tot- und Frühgeburten sowie Störungen des Immunsystems«, klagt die Kinderärztin Hudaiberdiewa vom Bezirkskrankenhaus Scharkent. Was es dagegen nicht gibt, sind offizielle Zahlen. Die Leukämierate in der betroffenen chinesischen Region soll zwischen 1975 und 1985 um das Siebenfache angestiegen sein. Die Sterblichkeitsrate bei Speiseröhrenkrebs nahm um das Achtfache zu, und 85 Prozent der Bevölkerung haben zu wenige weiße Blutkörperchen. Von 200 000 Atomtest-Toten ist die Rede. Allein 1987 und 1988 sollen 100 000 Menschen an Leukämie, Lungen- und Leberkrebs gestorben sein. In den 60er Jahren war Krebs hier so gut wie unbekannt, in den 70ern wurden im Krankenhaus zehn Krebsfälle pro Monat eingeliefert. Heute sind es 70 pro Tag.

Die chinesischen Kinder, die in der direkten Umgebung des Testgeländes leben, wo kein Journalist hin darf, sollen unter schrecklichen Mißbildungen zu leiden: Babies mit zwei Köpfen, Kinder ohne Mund und Nase oder mit nur einem Auge. Deswegen hat China die Tests aber nicht gestoppt. Auch nicht wegen des internationalen Drucks. Sondern, weil unter dem Testgebiet riesige Öl-, Kohle- und Gaslager entdeckt wurden.

Die Tests also sind Schnee von gestern, aber den Kindern werden ihre Mißbildungen und ihre Leiden bleiben ihr nur kurzes, aber dennoch ihr ganzes Leben lang.

Thomas Schüsslin

Dieser Text ist Teil der tilt-Ausgabe 2/98.