»So eine Art Desperado-Einsatz«

Flakhelfer - die »Kindersoldaten« der Nazis

Die Jungs auf dem vergilbten Foto sind kaum älter als 16 Jahre. Sie tragen Uniformen, die ihnen zu groß sind, und eine Armbinde mit einem Hakenkreuz drauf. Ganz links, etwas verschämt in der zweiten Reihe, steht einer mit großen Augen und einer etwas derangierten Frisur. Er ist Soldat, es ist Krieg – und er lacht trotzdem, wenn auch dünn. Der Junge ist mein Vater, wir schreiben das Jahr 1944, und das Tausendjährige Reich hat fast das Ende seiner zwölfjährigen Existenz erreicht.

»Flakhelfer« heißen die Jugendlichen, die die Nazis im zusammenbrechenden Deutschland als letztes Aufgebot an die Heimatfront (sonst gibt es nämlich keine mehr) schicken. Mein Vater besucht das Gymnasium in Siegen, als die Verrückten auf die Idee kommen, ganze Schulklassen nach einer sechswöchigen Ausbildung beim Endsieg mithelfen zu lassen. Die Klasse wird gemustert, zwei Drittel werden für tauglich befunden. »Was uns damals ziemlich gewurmt hat, war, daß wir ausgerechnet von einer Kinderärztin gemustert wurden«, erzählt mein Vater. Aber nicht nur die Untauglichen dürfen zu Hause bleiben – auch die Führer der Hitlerjugend oberhalb eines gewissen Ranges sind den Nazis zu schade für den Krieg. Die sollten lieber daheim Durchhalteparolen klopfen.

»Wir hätten uns zwar sowieso nicht weigern können, mit in den Krieg zu ziehen, aber ein bißchen haben wir uns auch darauf gefreut, den Zwängen des Elternhauses und der Schule entzogen zu sein. Das war einfach mal was Neues.«

Nach einer sechswöchigen Ausbildung, die ebenso den Umgang mit Gewehren wie das Bedienen eines Flugabwehr-Geschützes umfaßt, geht‘s an die Front. Zunächst wird die junge Truppe zum Schutz eines Dynamit-Nobel-Werkes in Troisdorf bei Bonn, später am Militärflughafen in nahen Hangelar eingesetzt.

Eingezogen hat man die jungen Männer Mitte Januar 1944, der Einsatz läuft bis Kriegsende. Die Jungs werden in die regulären Verbände eingebunden; das Verhältnis der Flakhelfer zu »richtigen Soldaten« ist etwa 1:2. Auch andere »Hiwis« dienen bei der Flugabwehr-Truppe: Bosnier, Kroaten und russische Zwangsarbeiter müssen die Geschütze bedienen helfen. Selbst junge Frauen sind im Einsatz: Sie müssen die Scheinwerfer für die Flakgeschütze bei Nacht-Einsätzen ausrichten oder dienen als »Blitzmädels« bei den Funkern. Die jungen Frauen werden allerdings – alles preußisch korrekt – nicht an der Waffe eingesetzt.

Einmal holt die Hilfskrieger-Truppe sogar einen Tiefflieger vom Himmel (in eineinviertel Jahren!), wobei mein Vater sich heute noch nicht mal sicher ist, ob der nicht schon vorher schon eine Treffer abbekommen hatte. »Natürlich war das rein militärisch vollkommener Blödsinn, 16jährige in den Krieg zu schicken.« Der kriegerische Nutzen der jugendlichen Truppe war minimal, aber da waren die »Riesenverluste im Osten, die das Militär irgendwie ausgleichen mußte«, und da war der Propaganda-Effekt, der ein Volk zeitigt, das vom Greis bis zum Jungspund in Uniform zur Front marschiert und über »Geheimwaffen« unbekannten Potentials verfügt.

Mein Großvater, obwohl überzeugter Nazi, sah die Sache realistischer »Wenn die övr den Ring komme, komme die övr de Isern.« Zu deutsch: Wenn die Amerikaner über den Rhein kommen, kommen die auch über den Bach in unser Siegerländer Heimatdorf.

Ein »Pfadfinderspielchen« sei der Einsatz gewesen, meint mein Vater heute. Viele waren aufgrund der unübersichtlichen Situation dem Fatalismus anheimgefallen: »Wenn‘s denn sein muß, geh‘ ich eben drauf.« Die Angst vor dem Ende des Krieges, die Angst vor dem »was kommt danach« machte das ganze zu »so ner Art Desperado-Einsatz «.

Trotzdem werden Schüler zu Vaterlandsverteidigern gemacht. Die Situation ist absurd: Mitten im Krieg sorgt sich das bürokratische Deutschland natürlich noch um die Schulbildung der Gymnasiasten. Zweimal pro Woche kommen Lehrer für zwei Doppelstunden mit der Bahn von Siegen zum Truppenstandort gefahren, um ihren Schützlingen Deutsch, Latein und Naturwissenschaften beizubringen. Um sie dann auch gleich anzubetteln: »Habt ihr mal ein Stück Kommißbrot für mich?«

Das Hierarchie-Verhältnis Lehrer–Schüler hat sich da auch teils zu einem Hierarchie-Verhältnis Soldat–Zivilist umgekehrt. Ein Schüler in Uniform, der sich von einem Lehrer eine Ohrfeige fängt, kann da mit den Worten »Wie können Sie einen Soldaten der deutschen Wehrmacht schlagen« auch schon mal befreit zurückdreschen. »Natürlich hat uns das aufgewertet«, erzählt mein Vater. Die Armbinden, die die Jungs in Uniform als Angehörige der HJ kennzeichnen, haben sie abgelegt, bevor sie den Truppenstandort verließen. »Wir wollten Soldaten sein, keine Hitlerjungen.«

Ein Klassenkamerad stirbt, als an Heiligabend 1944 ein schwerer Bombenhagel auf die Stellung vor dem Flugplatz niederregnet. Später kommen noch etliche Lehrlinge in der Einheit im Artilleriefeuer der Alliierten um. Schlimmeres wird den Jugendlichen erspart. Als die Politruks der Nazis für die Ardennen-Offensive Freiwillige suchen, sind die Jungs nicht so blöd, sich zu melden. Die Flakhelfer werden zwar noch für die verzweifelten Versuche, den Vormarsch der Amerikaner aufzuhalten, flugs auf panzerbrechendes Geschütz umgerüstet, aber da wird es meinem Vater zu bunt. Zusammen mit einem Freund setzt sich ab. »Die Nazi-Bonzen waren zwar schon geflohen, aber ihre Motorräder hatten sie vor der Kreisleitung stehengelassen.« Die beiden schwingen sich auf ein Krad, wollen nach Hause. Irgendwo auf dem Heimweg gibt‘s eine Straßensperre. »Nicht ganz ungefährlich. Auch desertierende Flakhelfer werden von der Militärpolizei einfach den nächsten Baum gehängt.« Jedenfalls ging die Sache gut: »Hans sagte zu mir ‚Halt dich gut fest‘ und hielt genau auf die Feldjäger zu.« Die spritzten zur Seite, denn damit hatten sie nun wirklich nicht gerechnet, und ehe die Schergen sich‘s versahen, waren die Junior-Deserteure schon um die nächste Straßenecke.

Lucky me. Vater hat mich schließlich erst gut zwanzig Jahre nach Kriegsende gezeugt, und allein die Anwesenheit dieser schwarzen Buchstaben auf weißem Papier zeugt vom Nutzen des Deserteurs für die Nachwelt.

Thomas Schüsslin

Dieser Text ist Teil der tilt-Ausgabe 2/98.