Ausgequetscht und abgeschoben
Russische Deserteure gaben westlichen Geheimdiensten bereitwillig Auskunft - und bekommen trotzdem kein Asyl in DeutschlandErst nutzt man sie aus und macht ihnen Versprechungen, dann dreht man ihnen eine lange Nase und schickt sie nach Hause dorthin, wo Militärjustiz und Straflager auf sie warten. Rund 600 Offiziere und Soldaten aus der Westgruppe sind bis 1994 aus der Roten Armee geflohen und haben in Deutschland mit ihren Familien um Asyl gebeten. Man ließ sie vor westlichen Geheimdiensten aussagen und versprach ihnen, ihren Asylantrag wohlwollend zu begutachten, wenn sie sich kooperativ zeigen und ausführlich aus dem Nähkästchen ihres ehemaligen Arbeitgebers plaudern von Flugzeugtypen etwa und Atomwaffenstandorten. Dennoch kam im Mai vergangenen Jahres das böse Erwachen für die Deserteure. Nach einem Erlaß des Innenministers wurden die ersten Ablehnungsbescheide in Sachen Asyl verschickt. Und inzwischen müssen die Männer mit ihren Familien mit ihrer Abschiebung rechnen in einen Land, in dem man ihnen jetzt wegen Spionage, Landesverrats und Fahnenflucht den Prozeß machen wird und sie vielleicht jahrzehntelang in Straflager schickt. Am Umgang mit den Deserteuren der Westgruppe der Roten Armee (WGT) wird beispielhaft klar, was die deutsche Gerichtsbarkeit, die deutsche Bürokratie von Kriegsdienstverweigerern, Drückebergern und ähnlichem Gesockse hält gar nichts. tilt beleuchtet die Hintergründe des Asyldramas, läßt einen Deserteur seine Leidensgeschichte erzählen. Wir drucken ein Interview mit einem Rechtsanwalt, der mehreren Ex-WGT-Angehörigen das Bleiberecht sichern will, und wir erläutern die Zustände in der russischen Armee heute. Die tilt-Titelgeschichte: Ein Lehrstück.Wenn schon Flüchtlinge Parias und Deserteure Freiwild sind, kann man sich das Schicksal von Verweigerern, die in Deutschland Asyl suchen, locker ausmalen. Albrecht Göring ist entsetzt. Der Münchener Rechtsanwalt wirft dem Zirndorfer Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge "Anstiftung und Beihilfe zum Geheimnisverrat" vor. Das Amt hatte russischen Deserteuren der ehemals in Deutschland stationierten sowjetischen Streitkräfte klargemacht, ihre Asylanträge würden nur dann behandelt, wenn sie sich den westlichen Geheimdiensten offenbarten. Und die Deserteure hatten der CIA, dem britischen MI 5 und dem Bundesnachrichtendienst bereitwillig Auskunft gegeben. Anschließend lehnten die Zirndorfer die Asylanträge "mangels politischer Verfolgung" ab. Begründung: Desertion sei kein Asylgrund. Auch die ihnen drohenden drakonischen Strafen wegen Spionage durch die Aussagen vor den Geheimdiensten seien keine politische Verfolgung. Schließlich sei Geheimnisverrat auch in Deutschland strafbar. Für Göring, der mehrere Deserteure vertritt, ist diese Praxis ein "ungeheurlicher Skandal" und eine "bodenlose Schweinerei". Der russisch-orthodoxe Priester Nikolai Artenoff, der einige der Deserteure persönlich kennt, bezeichnet die Abschiebung als Versuch Deutschlands, die Deserteure per Abschiebung "als Restmüll des kalten Krieges zu entsorgen". Rif Achmetganeew gehört zu dem "Restmüll". Der russische Ex-General und Kommandeur einer in Frankfurt/Oder stationierten Panzertruppe flüchtete 1991 über die Kasernenmauer. Der 47jährige, der inzwischen mit Leidensgenossen die Initiative "Hoffnung e. V." gegründet hat, wurde beim Asylbundesamt durch drei Zimmer geschleust, die allesamt kein Türschild hatten und in denen zuvorkommende Herren warteten. Fast einen Tag lang wurde der Deserteur in die Mangel genommen und über Waffensysteme, SS-20-Standorte und Panzer ausgefragt. Immerhin hat Achmetganeew sechs Jahre lang auf dem streng geheimen Atomtestgelände in Semipalatinsk gedient ("Meine Truppen haben die unterirdischen Testbomben gezündet") und anschließend eine SS-20-Raketenstellung im Fernen Osten befehligt. Die Schlapphüte verabschiedeten ihn mit den Worten: "Das mit dem Asylantrag wird schon klargehen." Der Deserteur dachte: "Ich kann mit meiner Familie in Deutschland bleiben, wenn ich alles sage, was ich weiß." Jetzt weiß er es besser. Und ist verbittert: "Ich fühle mich von den Amerikanern betrogen. Als ich flüchtete, hieß es: 'Willkommen, Iwan.' Nun heißt es 'Iwan, geh heim.' Für das Zirndorfer Bundesamt indes waren die Geheimdienstverhöre reine "Routinegespräche", an denen die Deserteure "absolut freiwillig" teilnahmen und die "keinen Einfluß auf die Asylverfahren" gehabt hätten. Die Geheimdienste, glaubt die Bundesregierung, hätten den Deserteuren überhaupt keine Aussichten in Sachen Asyl machen können, weil sie das "aus Zuständigkeitsgründen" nicht gedurft hätten. Achmetganeew ist kein Einzelfall: Alle Offiziere aus den Reihen der Deserteure sind wohl von West-Schlapphüten befragt worden, und auch Iwan Frolov berichtet gegenüber tilt von Verhören durch BND und CIA. Allen war klar: "Keine Kooperation, kein Asyl". Im April 1996 dann der Schock: Achmetganeew bekam ein Schreiben, aus dem hervorging: "Die Antragsteller können nicht glaubhaft machen, daß sie sich aus asylerheblichen Gründen außerhalb der russischen Föderation aufhalten." Der Bundesinnenminister hatte 1996 den Abschiebestopp aufgehoben, und bald darauf hagelte es Ablehnungsbescheide. Nur bei zwei Dutzend Deserteuren gibt es derzeit noch ein persönliches Abschiebeverbot. Achmetganeew ist sauer: "Bonn will uns aus politischen Gründen dem KGB in den Rachen werfen. Das ist unmoralisch." Und selbst Geheimdienstler sind empört: Allein schon "aus taktischen Gründen" seien die Abschiebungen eine "Schweinerei" schimpft ein BND-Mann. Und ein US-Agent hält die Bonner Entscheidung für ethisch verwerflich. "Ein demokratischer Staat darf niemanden in den sicheren Tod schicken." Vor Gericht werden Deserteure, die gegen ihre Abschiebung klagen, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Nach einem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts gilt die Bestrafung von Deserteuren als legitimes Mittel zur "Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit und Sicherung der Wehrpflicht". Mit anderen Worten: Solange die Wehrpflicht schwer im deutschen Wesen verankert ist, kann man es andern Staaten nicht verdenken, wenn sie zum Wohle der Staatsbürgerdisziplin Zwangsmaßnahmen gegen Wehrunwillige anwenden. Nur in extremen Ausnahmefällen sei eine Desertion ein Asylgrund. So heißt es auch in Achmetganeews Ablehnungsbescheid: "Eine zu erwartende Bestrafung stellt keine politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts dar." Für Albrecht Göring ist die Position der deutschen Behörden zwar "sehr, sehr rechtsstaatlich", aber ebenso menschenverachtend. Die nichtgrünen Politiker halten derweil bis auf einige rühmliche Ausnahmen wie den CDU-Abgeordneten Horst Eylmann still. Für Göring ein weiterer Grund, sich aufzuregen: "Da geschehen die ungeheuerlichsten Dinge, und alle schauen in die Luft." Zum Teil durchaus mit Absicht. Die Bundesregierung möchte unter keinen Umständen die guten Beziehungen zu Rußland trüben und ist wohl bereit, die Deserteure für dieses gute Verhältnis zu opfern. Immerhin wurden viele Ablehnungsbescheide kurz nach dem Besuch von Helmut Kohl bei Boris Jelzin verschickt. Reiner Zufall, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage der Bündnisgrünen im Bundestag glauben machen will? Immerhin hatte die russische Botschaft in Bonn in jedem einzelnen Fall von Desertion die Auslieferung des Betreffenden gefordert. Natürlich gibt man derartige Mauscheleien nicht offen zu und zieht sich daher auf die rechtsstaatliche Position zurück. Und die heißt nun mal: Politisch Verfolgte und nur die, manchmal noch nicht mal die genießen Asyl. In der Tat aber hatten nicht alle der russischen Deserteure politische Gründe für ihre Flucht. Sie flohen vor Armut, vor dem Hunger, der Brutalität ihrer Vorgesetzten, den bewaffneten Konflikten in ihrer Heimat oder auch wegen drohender Versetzungen in unangenehmere Regionen. So wie Rif Achmetganeew, der wegen seiner Kontakte zu Bundeswehrsoldaten in Bedrängnis geriet. Als er sich weigerte, die neuen Freunde mit Wodka abzufüllen und anschließend auszuhorchen, drohte die WGT ihm mit einer Strafversetzung. Also floh er mit Frau und Kindern im Oktober 1991 er hatte am Kasernentor erklärt, er gehe Pilzesammeln und beantragte von Braunschweig aus Asyl. Nach wenigen Tagen kreuzte der KGB bei ihm auf. Achmetganeew mußte unter Polizeischutz in Sicherheit gebracht werden. Weitere zehn Monate später versuchten zwei Männer, in sein Haus einzudringen und wieder brachte die BRD-Polizei die Familie in Sicherheit. Wo diese Hilfe unterblieb, hat es auch Fälle von Verschleppung gegeben, die für die Betroffenen im Straflager endeten. So wird von einer Einheit innerhalb der Westgruppe berichtet, die Deserteure aufgespüren und zurückbringen sollte. Auch wurde Druck auf deren Angehörige ausgeübt, um die Flüchtigen zur Rückkehr zu zwingen. Aber auch hier liegt der Fall für die Bundesregierung klar auf der Hand: "Asylbewerber geben häufig vor, verfolgt oder bedroht zu werden oder Angst vor Verschleppung zu haben, um ihrem Asylbegehren Nachdruck zu verleihen." Die Grünen in Bayern haben unterdessen ein unbefristetes Bleiberecht für russische Deserteure gefordert. Durch eine parlamentarische Anfrage kamen auch endlich einmal Zahlen zu diesem Thema auf den Tisch. Bisher sind zwischen 1989 und 1996 nur 63 Deserteure WGT in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt worden. Insgesamt hatten dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in diesem Zeitraum 1244 Anträge von Deserteuren und deren Angehörigen vorgelegen. Insgesamt sind 600 Offiziere und Soldaten von den insgesamt 340 000 Mann der Westgruppe desertiert. Ihre Chancen auf Asyl in Deutschland verschlechtern sich zusehends. Erst vor kurzem hatte das Verwaltungsgericht Stade (Niedersachsen) die Asylklage des ehemaligen WGT-Soldaten Jaroslaw Fischer aus Forchheim abgelehnt. Begründung: Ihm drohe bei einer Rückkehr in die Ukraine keine "politische Verfolgung mit asylpolitischer Relevanz." Auch der Soldat Maxim Potakajew wurde aus München nach Rußland abgeschoben und dort prompt wegen Fahnenflucht verhaftet. Laut Wanda Wahnsiedler von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und Rif Achmetganeew hat es weitere Abschiebungen gegeben. Unmittelbar bevor stand bei tilt-Redaktionsschluß die Abschiebung des Ex-Offiziers Wladimir Nedowintschanij samt Frau und Tochter. Den Ausweisungsbescheid in die Ukraine hat der Mann bereits erhalten. Und seine Angst wächst stündlich. Nedowintschanijs Vater hatte in einem Brief von einer Befragung beim ukrainischen Geheimdienstes berichtet. Die Beamten hätten erklärt, gegen den Sohn liege ein Haftbefehl vor, weil er mit westlichen Schlapphüten kooperiert habe. Er solle vor ein Militärtribunal gestellt und anschließend an Rußland ausgeliefert werden. Der Soldat, der ihm zur Flucht verhalf, sitzt inzwischen in der Psychiatrie nach ein bißchen U-Haft. Bei ihrer Rückkehr droht den Deserteuren grundsätzlich ein Militärgerichtsverfahren mit einem Militärverteidiger statt eines Rechtsanwalts. Die Angehörigen bekommen oft über Monate kein Lebenszeichen der Inhaftierten, das Besuchsrecht ist gegenüber zivilen Gefangenen drastisch eingeschränkt. Im schlimmsten Fall drohen den Deserteuren in ihrer Heimat wegen Fahnenflucht bis zu sieben Jahre Haft, für Staatsverrat und Spionage sind weitere 20 Jahre Knast möglich. Angesichts der "unmenschlichen Haftbedingungen der sichere Tod", glaubt Rechtsanwalt Göring wiewohl Verweigerer nach dem seit Januar geltenden Strafrecht nicht mehr formell zum Tode verurteilt werden dürfen. "Nur eine Amnestie könnte ein Verfahren verhindern", sagt der Chef der Untersuchungsabteilung der Militärgeneralstaatsanwaltschaft., Victor Schein. "Aber ich kann mich nicht entsinnen, daß Militärangehörige, die ein Verbrechen wie Desertion begangen haben, jemals amnestiert worden wären." Ein UNO-Sonderberichterstatter beschrieb die Haftbedingungen in Rußland so: "Der Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinnn und das Sehvermögen werden auf das widerwärtigste angegriffen. Die Bedingungen sind grausam, unmenschlich und erniedrigend. Sie kommen der Folter gleich." Äußerst bedenklich findet die Haftbedingungen zwar auch das Auswärtige Amt in Bonn aber das habe eher etwas mit dem desolaten Zustand des russisschen Strafvollzugs als einer gezielten unmenschlichen Behandlung der Deserteure zu tun. Egal, ob gezielt oder ungezielt die Todesrate in russischen Gefängnissen ist extrem hoch. Aber Deutschland schiebt ja bekanntermaßen auch in den Tod ab. Eduard von Muntern
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