TKDV

Sind Totalverweigerer eine aussterbende Minderheit?

TKDV - von damals bis jetzt: Geschichte, Kritik und Tendenzen

Es ist still geworden um sie. Im Schnitt gibt es seit 1993 nur 25 Totalverweigerer pro Jahr. Jährlich werden etwa 40 Urteile gefällt (inklusive Altfälle). Allerdings handelt es sich hierbei nur um die bekannt gewordenen Fälle. Anfang der 80er war das Thema Totalverweigerung öfter in der bundesdeutschen Medienlandschaft präsent. Damals wurde das KDV-Anerkennungsverfahren noch restriktiver gehandhabt. Mancher wurde so zum Totalverweigerer wider Willen. Doch trotz gewachsener Erfahrung, ungeahnten technischen Möglichkeiten sowie aktiver Solifonds ist die Totalverweigererbewegung nicht gewachsen.
tilt beleuchtet die aktuellen Entwicklungen und Tendenzen und stellt die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West in den 80er Jahren vor.
Henrik Solf sitzt in seiner Praxis und wartet auf die Totalverweigerer. Solf ist Rechtsanwalt und neu im Berliner Prenzlauer Berg. Obwohl von der Totalverweigerer-Initiative Braunschweig als gute Adresse angepriesen, stellen sich bei ihm keine Totis ein. Die stellen nach wie vor eine Minderheit dar und gute KDV-Anwälte sind bisher keinesfalls überlastet. Auch Dieter Hackler frohlockt: ”Der Trend zur Kriegsdienstverweigerung ist gestoppt.”
Das ist zwar glatt gelogen, aber immer wieder sagen junge Männer in der Kriegsdienstverweigerungs-Beratung, nachdem sie endlich geschnallt haben, daß Zivildienst auch Kriegsdienst ist, den berüchtigten Satz: ”Okay, dann verweigere ich eben total, aber wie beantrage ich das?”
Eigentlich dürfte es das Natürlichste der Welt für junge Männer sein, alles daran zu setzen die Wehrpflicht zu vermeiden. Von den Konsequenzen: Strafverfahren, Bundeswehrarrest, Untertauchen unterrichtet, machen die meisten sofort wieder einen Rückzieher. ”Ich will doch bloß irgendwie drum rum kommen!” Da werden dann lieber KDV-Erklärungen gescannt, um die nicht nochmal abtippen zu müssen. Ist ja auch okay. Immer wieder fällt der Satz: ”Ach, Totalverweigerung ist doch heute kein Problem mehr. Man kann doch Zivildienst machen!” Daß es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, sondern nur auf Waffendienstverweigerung gibt, ist nicht im öffentlichen Bewußtsein. Die Väter der Totalverweigerer-Bewegung hatten sich das alles wohl etwas anders vorgestellt.

Freispruch, Knast und diffiziles Mobbing

Liegt das nur an fehlender Publicity? Im Vergleich mit den frühen 80er Jahren, spielen Totalverweigerer in der Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle. Damals gab es Artikel in allen (un)möglichen Zeitungen zu fast jedem neuen Fall. z.B. im ”Stern”. Allerdings waren die Strafen dazumal z. T. auch drakonischer und es ging auch um ein liberaleres Anerkennungsverfahren für KDVer.
Heute berichten die Medien nur, wenn delikate Skandale ruchbar werden. Beispielsweise, wenn Verweigerer, die bereits zu DDR-Zeiten inhaftiert waren, erneut im Knast sitzen, wie etwa Oliver Blaudszun, der es vom Spiegel bis zum Fernsehpfarrer Fliege schaffte. Die schleichend eingeführte Erhöhung der Bundeswehrarrestzeit von 63 auf über 100 Tage war dagegen nur regional kurzzeitig in den Medien. Totalverweigerer werden zumeist als eigensinnige Einzelkämpfer dargestellt. In der Regionalpresse gibt es eher schon mal Leserbriefdiskussionen bzw. dumpfe Beschimpfungen auf Stammtischniveau. Das macht zwar die Verfaßtheit der militärgläubigen deutschen Spießer deutlich, setzt aber auch keine weitergehende Debatte in Gang. Öffentliche Solidarisierungen, beispielsweise von linksliberalen PolitikerInnen, bleiben aus. Amnesty International anerkennt noch immer nicht inhaftierte Militär- oder Zivildienstverweigerer als Gewissensgefangenen. Dieses Privileg haben nur Kriegsdienstverweigerer in Ländern, in denen kein Militärersatzdienst existiert.
Dabei ist die Infrastruktur für politisch motivierte Totalverweigerer so gut wie noch nie. Computer, Email, Faxgeräte und Mobiltelefone stehen für die interne und externe Kommunikation zur Verfügung. Gemeinsame Prozeßstrategien werden erarbeitet, Erfahrungen vermittelt. Es gibt Unterstützerfonds wie Pro Total oder den Solifonds der DFG-VK, aber letztlich werden an TKDVer besondere Anforderungen gestellt. Sie müssen willensstark, unerschrocken, stoisch und ausdauernd sein.
Denn der Staat hat mehr Angst vor ihnen als vor dem abhandengekommenen Feind. Obwohl die geringe Quote an zwangsdienstpflichtigen Totalausfällen den Staat nicht erschüttern dürfte, reagiert er gegen die kleine Schar wie gegen einen übermächtigen Gegner - mit Hilfe seiner Feldjäger, Truppendienstgerichte und Militärlagerkommandanten. Bei den Gerichten bröckelt allerdings die Front. So ist gar von Freisprüchen und Verfahrenseinstellungen zu lesen.
Andererseits nimmt die Repression zu. Besonders seitens der Bundeswehr. Lothar Lehmann, Hartmut Koblischke, Tino Sowada und Lothar Wesolowski wurden übermäßig lange in Bundeswehrarrest genommen. Zu Haftstrafen verurteilt wurden in letzter Zeit Heiko Thiele, Axel Weiß, Stefan Grundbacher und jetzt Hans-Caspar von Bothmer. Andreas Wieckhorst mußte, wie manch andere, untertauchen. Gegen Unterstützer von TKDVern werden neuerdings abstruse Prozesse angestrengt. So wird Detlev Beutner der angeblichen 'unerlaubten Abgabe' von 0,1 g Marihuana beschuldigt. Er soll den Shit während der Hauptverhandlung gegen Heiko Thiele diesem in einem Überraschungsei zugesteckt haben. Gegen Beutner und Scheer war zuvor schon der Vorwurf erhoben worden, unerlaubt Rechtsbeistand in Totalverweigererprozessen zu gewähren. (siehe tilt 4/96).
Zudem kämpft die Bundeswehr an der Presssefront. Wie bereits in tilt 3/96 berichtet, will das IV. Korps eine kleine Schnüffelakte über jeden Totalverweigerer anlegen. So sollen schon vor dem eigentlichen Tatbestand Presseartikel verfolgt werden und per Muster-Erklärung darauf reagiert werden. Ähnliche Texte finden sich auch in Stasi-Akten: ”Dem IV. Korps ist sofort zu melden, wenn eine neue Lageentwicklung eintritt! Dies können sein: Presseveröffentlichungen im Vorfeld von befohlenen Dienstantritten, der Nichtantritt desselben, (...) Unterstützung von Totalverweigerer durch kirchliche oder sonstige Institutionen.”
Totalverweigerer gefährden nicht die Existenz des Staates und seiner Armee, nicht einmal die Wehrpflicht, obwohl zumindest letzteres Ziel war - Abschaffung der Wehrpflicht von unten. Woher die Angst des Staates?

Vom Marsch durch die Institutionen auf den Weg durch die Instanzen

Im Verfahren gegen den Totalverweigerer Volker Wiedersberg ist das Potsdamer Amtsgericht bereits seit zwei Jahren damit beschäftigt, zu prüfen, ob die Wehrpflicht noch verfassungsgerecht ist. Mittlerweile will sich eine neue Richterin bis Sommer '97 in die Materie einarbeiten.
Der Verfassungsrechtswissenschaftler Dr. Manfred Baldus aus Hamburg meint in seinem für den Prozeß erstellten Gutachten, daß die Grundrechtsbeschneidung der Wehrpflichtigen nicht mehr durch das Grundgesetz gedeckt ist, weil die jetzigen, verfassungsgemäßen Verteidigungsaufgaben auch mit einer Berufsarmee ausgeübt werden können. So ein Prozeß ist recht teuer. Jede Instanz fordert dann erneut ihren Lohn. Andere überlegen, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen Zwangsmusterungen Sinn macht.
Doch bevor der Instanzenweg durchschritten sein wird, könnte die Wehrpflicht schon von oben gekippt worden sein, wie in einer Reihe europäischer Länder, um die Effizienz der Streitkräfte für out-of-area-Einsätze zu erhöhen.

Einzige Konstante in der TKDV-Szene: Die Fluktuation

Anfang der 80er hatte die Totalverweigererbewegung sich einen Namen gemacht, jetzt hat sie zwei: die Braunschweiger Detlev Beutner und Rainer Scheer. Resultat einer immer größer werdenden Fluktuation, die andererseits zu einer immer stärkeren Zentralisierung auf der Beraterseite führt. Immer weniger Personen vereinen immer mehr Funktionen auf sich und versuchen, einen ständig wachsenden Arbeitsanfall zu bewältigen. Die Braunschweiger etwa leisten seit 1990 mühevolle Aufbauarbeit und brachten es durch fast seelsorgerische Begleitung zustande, daß die Teilnehmerzahl bei Totalverweigerer-Treffen bundesweit von 10 auf 70 anstieg. Beutner und Scheer geben jährlich einen aktualisierten TKDV-Reader heraus. Darin wird das wesentlichste über alle Aspekte der TKDV dargestellt. Und für jene, die sich bisher mit dem Thema Totalverweigerer noch gar nicht befaßt haben, werden leicht verständlich die einzelnen Etappen skizziert. Für Interessierte finden sich Anregungen, eine kreative Öffentlichkeitsarbeit zu gestalten.

Der Solidaritätsmythos und was dahinter steckt

Doch gute und originelle Pressearbeit kann nicht darüber hinweg täuschen, daß auf "Funktionärsebene" keine neuen Gesichter auftauchen. Denn Tatsache ist auch - und das ist kein Vorwurf an einzelne Personen - daß viele Nachwuchs-Totalverweigerer mit ihrem oft auch persönlichen Problemen ziemlich allein waren, sich über mangelnde Unterstützung beklagten. Sauer und frustriert zogen sie sich schnell wieder zurück. "Die Betreuungsarbeit für den Einzelnen kommt mitunter zu kurz", räumt etwa "ohne uns”-Redakteur Kai Osterhage von der Kampagne ein. Bei den knappen personellen Ressourcen ist das schließlich auch nicht verwunderlich. Doch schon in vergangenen Zeiten krankte die Bewegung in diesem Bereich.
Wer in Knast oder Arrest sitzt, dem helfen keine vollmundigen Presseerklärungen. Christoph Rosenthal, der sich seit über 15 Jahren mit der Totalverweigerung und deren Randphänomenen beschäftigt, spricht denn auch vom "Soli-Mythos". Tatsächlich aber "hat es in dieser Hinsicht manch große Enttäuschung gegeben." Und er kritisiert, daß es "ein In-Group-Verhalten gab, auf das sich Neue entweder einließen, oder auf sich alleine gestellt waren." Was die Stärke der Totalverweigerer war und ist, ist auch gleichzeitig ihre Schwäche: Einerseits ergeben die verschiedenen Mentalitäten eine bunte Vielfalt, andererseits bringt die fehlende Homogenität auch erhebliche (zwischenmenschliche) Probleme mit sich. Eine Tatsache, die sich die Total(Kriegsdienst)verweigerer lange nicht eingestanden haben.

Bedrohte Art oder kreativer Lebensentwurf?

Der von einigen Totalverweigerern der ersten Stunde favorisierte Gedanke an eine Verweigerer-Massenbewegung, mit der Wehrpflicht, Militär und möglichst auch der Staat gekippt werden, ist gescheitert. Nur wenige der Urgesteine sind noch am Thema dran. Christian Herz schreibt seine Doktorarbeit über die Wehrpflicht und ist mit der Berliner Kampagne noch schwer am Ball. Dieter Schöffmann macht professionelle Bildungswerkarbeit, Stefan Phillipp arbeitet in der Zentralstelle für Recht und Schutz der KDVer und Christoph Rosenthal schreibt an einem Buch über die Geschichte der TKDV. Andreas Speck macht derzeit die Zeitschrift ”graswurzelrevolution” fast allein und wurde im Mai 1995 mit dem Erich Mühsam-Preis geehrt, weil er wegen des Tucholsky-Zitats ”Alle Soldaten sind potentielle Mörder” zu 100 Tagessätzen verurteilt worden war und die Zahlung verweigerte. Außerdem ist er die wri-Gruppe der FöGA und unterstützt die aufkeimende Totalverweigererbewegung in der Türkei.
Von einer diffusen Bewegungsszene blieben streitbare Personen übrig.
Gerold Hildebrand, Matthias Kittmann